Vo Ämmättär – Fyr Ämmättär: Myrtha Röthlin

Myrtha – Mit Herz, Hand und Herbstblumen: Die Mäien-Binderin

Wenn im Spätsommer die Berge langsam in goldenes Licht eintaucht, beginnt für Myrtha die wohl schönste Zeit des Jahres. Während andere ans Meer fahren oder sich auf dem Balkon die Sonne ins Gesicht scheinen lassen, nimmt sie sich jedes Jahr zwei Wochen Ferien – um zu binden. Nein, nicht etwa Bücher oder Kränze – sondern Mäien. Und zwar mit einer Leidenschaft, die ansteckend ist.

Wenn Tradition blüht
Der Alpabzug ist eines der traditionellsten und gleichzeitig schönsten Berganlässe der Schweiz. Kühe, Schafe, Ziegen, Schweine kehren von den Hochweiden zurück, festlich geschmückt mit bunten Blumengestecken. In der Schweiz verbringen jedes Jahr rund 400’000 Rinder und 200’000 Schafe, Ziegen und weitere Tiere den Sommer auf der Alp. Die Rückkehr ins Tal wird im Rahmen eines jahrhundertealten Brauchs gefeiert – als Dank für einen unfall- und verlustfreien Alpsommer.

Je nach Wetterlage finden die Alpabzüge im September statt. Besonders ins Auge fallen dabei die aufwendig geschmückten Kühe mit ihren farbenfrohen Blumen-Kronen, den sogenannten Mäien. Die Älpler wählen gezielt jene Tiere aus, die in der Herde eine besondere Rolle spielen – etwa Kühe mit hoher Milchleistung oder solche, die zuverlässig vorangehen. Die Gestaltung der Mäien ist von Alp zu Alp unterschiedlich: Mal zieren Sonnenblumen, Dahlien oder Chrysanthemen das Haupt der Tiere, mal werden Kreuze, Holztafeln, Styropor-Kronen, geschmückte Hörner oder sogar ein umgekehrter Melkstuhl angebracht. Bei grösseren Gestecken werden teils auch Seidenblumen verwendet, um das Gewicht zu reduzieren – doch echte Frischblumen bleiben das Herzstück dieses Brauchtums.

Mäien-Binden mit Hingabe
Und genau hier kommt Myrtha ins Spiel: In stundenlanger Feinarbeit fertigt sie kunstvolle Mäien und prachtvolle Kuh-Bauchgurte – ganz traditionell, aber mit ihrem ganz eigenen Flair. Dieses Jahr sind es stolze 17 Mäien und 5-6 Bauchgurte, die unter ihren geschickten Händen entstehen. Auftraggeber ist niemand Geringeres als Marco Würsch von der Alpkäserei Frutt – ein Name, der in der Region für gelebte Tradition steht.

Für einen einzigen Bauchgurt braucht Myrtha rund eine Stunde – konzentriert, sorgfältig und mit sicherem Gespür für Farbe und Form. Eine Kopf-Mäie hingegen nimmt etwa 30 Minuten in Anspruch. Rechnet man alles zusammen, wird schnell klar: Diese Arbeit ist mehr als ein Hobby – sie ist Passion und gelebte Volkskultur.

Ein gelebtes Brauchtum
Myrtha trägt mit ihrer Arbeit dazu bei, das traditionelle Brauchtum des Kuhschmucks lebendig zu halten – eine besondere Form ländlicher Kultur, die von Handarbeit, Naturverbundenheit und Stolz auf die eigene Herkunft erzählt. Die festlich geschmückten Tiere sind das Herzstück des Alpabzugs – sie machen den Sommerabschied in den Bergen zu einem farbenfrohen, emotionalen Fest.

Ein Taubenschlag der Helfer
Zum Glück muss sie nicht alles allein machen. 4 bis 5 Helfer unterstützen sie, wobei der Arbeitsplatz manchmal eher einem Taubenschlag gleicht: Kommen und Gehen, Schwatzen und Plaudern, kurz mit anpacken – und wieder weiter. Während Myrtha alle Frischblumen organisiert, holen die Männer Tannäste oder anderes Grünzeug aus dem Wald – „Darüber bin ich sehr froh, auch wenn ich nicht immer einverstanden bin mit der Qualität“, sagt Myrtha und lacht verschmitzt. Man merkt: Hier wird mit viel Herz – und einem Augenzwinkern – gearbeitet.

Blütenjagd im Morgengrauen
Dieses Jahr wagt Myrtha etwas Neues: Zum ersten Mal bindet sie Strohblumen in ihre Gestecke ein. Doch auch sonst verwendet sie ausschliesslich Frischblumen. Und dafür scheut sie keine Mühen – sie fährt auch mal morgens um acht Uhr bis in den Kanton Schwyz, um in den Gärten frische Blumen zu schneiden. „Ich darf fast überall schneiden – das ist so schön!“, erzählt sie. Da es sich um Frischblumen handelt, beginnt die Binderei erst zwei Tage vor dem Anlass.

Wie alles begann
Zur Mäien-Binderei kam Myrtha vor rund 15 Jahren – durch ihre beiden Söhne. Beide helfen bis heute oft bei den umliegenden Bauern aus. Bis eines Tages sie jemand fragte: „Cha dini Muetter au Mäie binde?“ – und der Rest ist Geschichte. Heute ist sie eine bekannte Mäien-Binderin in der Region – mit einem feinen Gespür fürs Schöne, tief verwurzelt in der Tradition und voller Hingabe für jedes einzelne Gesteck.